Das Gespräch mit Marta führte Kensho, Advaita-Prag, Tschechien, im April, 2005
Frage: Was bedeutet für Dich das Erwachen?
Marta: Das Phänomen des Erwachens als solches existiert aus der absoluten Sichtweise nicht, weil es in Wirklichkeit niemanden gibt, der erwachen könnte. Wir können uns aber trotzdem diese Paradoxie aus unterschiedlichen Sichtweisen anschauen.
Man kann sagen, dass sich Gott als die universelle Lebensenergie und unendliche Weite des Bewusstseins mit einem bestimmten Objekt identifiziert und als individuelles Bewusstsein bindet, um sich selbst zu erkennen. Da Gott selbst diese Begrenzung erschaffen hat, ist er gleichzeitig der Einzige, der die Fähigkeit hat, diese falsche Identifizierung zu beenden und sich selbst als Absolutes Bewusstsein zu erkennen. Wenn Gott diese falsche Identifikation durch das Erkennen seiner eigenen Totalität beendet, dann spricht man über das sogenannte Erwachen oder das Erkennen der Realität.
Das Erwachen aus der persönlichen, individuellen Sichtweise bedeutet ein plötzliches inneres (kein intellektuelles) klares Erkennen der imaginären Wirklichkeit der Welt, und das Feststellen der Tatsache, dass Nichts und Niemand existiert. Der Mensch entdeckt seine fiktive Existenz und realisiert, dass er als unabhängiges, von Gott getrenntes Wesen, nie existiert hatte.
Er erkennt, dass er nur ein Instrument einer höheren Macht ist, ohne einen freien Willen. Alle Gedanken, Emotionen und Impulse, welche er für seine eigenen gehalten hatte, sind Produkte des Bewusstseins. Plötzlich ist klar, dass alle anderen Wesen nur erträumte Objekte im Bewusstsein sind, die eine scheinbare persönlich-individuelle Existenz besitzen, und dass derjenige, der träumt, das Träumen und das Erträumte ein und dasselbe ist. Gleichzeitig kommt es zum Erkennen der Tatsache, dass der Mensch niemals in der Lage war als ein getrenntes von der Quelle unabhängiges Wesen zu existieren, und dass alles und das Einzige, was existiert, Bewusstsein ist.
Bei einem Erwachen kommt es plötzlich zu einer radikalen Überschreitung – in meinem Fall kann ich eher von einem Durchbrechen sprechen – der horizontalen Linie der materiellen Existenz durch die vertikale Realität, die das Bewusstsein symbolisiert. Dieser plötzliche Durchbruch hat für mich eine unbarmherzige Kollision mit der unendlichen Weite des Bewusstseins bedeutet. In dieser schockierenden Erkenntnis seiner Nicht-Existenz kollabierte das Ego und fiel in die unendliche Leere und löste sich im Absoluten Sein auf. Wenn wir das Erwachen aus der absoluten Sichtweise der Nicht-Dualität betrachten, hat die Welt nur eine imaginäre Existenz und ist lediglich eine Erscheinung im Bewusstsein. Wenn niemand existiert und alles das absolute Sein ist, wer könnte denn dann noch erwachen und wer könnte einschlafen? Aus der Sicht der Totalität kann ein Erwachen auf keinen Fall existieren. Das einzige, was existiert, ist DAS, Brahman, die Einheit, eine unendliche Weite des Bewusstseins. Aus der Sichtweise des Kerns unserer Existenz können wir sagen, dass es nichts zu erreichen, zu gewinnen oder zu verlieren gibt. Keine Taten von Dir können DAS verbessern, verschönern oder verschmälern, was Du Hier und Jetzt bist – das Absolute Bewusstsein.
Frage: Wie können unsere Leser das Erwachen erreichen?
Marta: Das Erwachen ist ein Akt der Gnade, und es gibt niemanden, der sich diese Gnade auf irgendeine Weise verdienen könnte. Das Erwachen ist ein Erkennen unserer wahren Natur, es ist unser Erbe. Wenn das Erwachen von irgendetwas abhängig wäre, oder wenn man es hervorrufen könnte, wenn uns etwas aufwecken könnte, dann wäre es kein Erwachen. Das Erwachen kann also nur von alleine (vom All-Einen) geschehen und liegt nicht in unserer Hand. Aus der relativen Sichtweise der Individualität können wir sagen, dass die Tatsache, dass das Erwachen im jetzigen Leben passiert, die Wurzeln bereits in früheren Inkarnationen hat. Der Einzelne erntet die reifenden Früchte seiner Taten aus vorherigen Leben.
Frage: Welche Techniken empfiehlst Du, und was ist Deine Erfahrung?
Marta: Es gibt keine Techniken, Methoden oder Meditationen, die ein Erwachen erzielen oder hervorrufen können. Genauso wenig können wir uns das Erwachen erarbeiten. Es handelt sich also um reine Gnade. Wenn es in Kombination mit anderen Techniken passiert, passiert es nicht deswegen, sondern es passiert trotzdem. Außer Stille und Ruhe gibt es vorbereitende Methoden wie Meditation, Yoga, TaiChi, Chanting, Reiki oder Energiearbeit. Diese Methoden, praktiziert aus der Sichtweise eines von der Quelle getrennten Individuums, führen zwar nicht zum Erwachen, können aber dabei helfen, ein gesundes und diszipliniertes Leben zu führen.
Unseren Weg zum Erwachen können wir unterstützen, indem wir uns darin trainieren, diese Methoden aus der Perspektive des absoluten und einzigen Subjektes zu praktizieren. Das heißt, aus der Sichtweise der unendlichen Weite des Bewusstseins, welches alles ist, und aus dem Verständnis heraus, dass es niemanden gibt, der diese Methoden praktizieren könnte. Dann praktizierst Du nicht die Stille und Du meditierst nicht, sondern Du BIST Stille und du BIST Meditation.
Die einzige Möglichkeit, wie man Gott erkennen kann, ist, Gott zu Sein. Gott ist unser innerster Kern, unsere unmittelbare Gegenwart, und wir können uns dieser unmittelbaren transzendentalen Gegenwart immer bewusst sein. Wir können sie als die absolute Gegenwart im Herzen unseres Erlebens wahrnehmen.
Die Sehnsucht nach dem Erkennen unserer wahren Natur wird meistens in Form eines Kontaktes zu einem selbstrealisierten Lehrer erhört, der nichts anderes ist als unser eigenes Selbst. Diese Verbindung hat eher einen geistigen als einen persönlichen Charakter und zieht den Verstand ins Herz und hilft dadurch immer mehr, unsere wahre Natur zu entdecken. Aus diesem Grund spielt diese Verbindung mit einer Person, welche die Wahrheit realisiert hat, eine wichtige Rolle auf dem Weg zum Erwachen.
Der Weise trägt zur Auflösung des Gefühls der eigenen Täterschaft bei und zu dem Verständnis, dass es niemanden gibt, der gefangen oder befreit werden könnte. Er bestätigt Dich in der Überzeugung, dass Du Jetzt frei bist und dass das, was Du bist, die Freiheit selbst ist.
Zum Schluss möchte ich bemerken, dass das Leben ein ewiges Mysterium ist und bleibt. In diesem Mysterium durchläuft „jeder Einzelne“ als göttliches Unikat seinen individuellen und einzigartigen Prozess des Erkennens der Wahrheit. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, allgemeine Ratschläge und Techniken auf alle Wesen zu applizieren, da jedes Wesen gleichzeitig ein Ausdruck der unendlichen Möglichkeiten der verschiedensten Wege zur Selbst- Realisation und deren Erleben ist.
Es kann also nicht „den“ Weg zum Erwachen geben, genauso wie es nicht „die“ Methode oder „den“ Guru gibt, der für alle geeignet ist. Es gibt einen „äußeren“ und einen „inneren“ Guru, und in vielen Fällen kommt es zum Erwachen ohne einen äußeren Guru. Unser innerer Guru befindet sich in unserem Herzen, und diesem können wir uns immer bewusst sein.
Auf dem „Weg der nirgendwo hinführt“, steuert jedes Wesen auf seinem eigenen Pfad zu der Erkenntnis, dass die Wahrheit in uns selbst verborgen liegt. Dieses Erkennen ist nur möglich, wenn wir auf unser Herz hören.
Der Wahrheit zu dienen bedeutet also nicht, einem äußeren Guru zu dienen, sondern dem inneren. Das bedeutet, dem eigenen Herzen zu dienen und zu vertrauen. Das Leben selbst ist der höchste Guru, und Gott lebt in unserem Herzen als unser eigenes ICH.
Wenn wir lernen zu lieben was ist, als den momentanen Ausdruck der Totalität, führt dieser Weg zur Auflösung von allen Wünschen, Vorstellungen, und Ambitionen des Verstandes in die Seligkeit unseres Seins. In dieser Seligkeit des Herzens löst sich als letztes die Sehnsucht nach unserem Erwachen auf. Wenn diese Sehnsucht verschwunden ist, dann klopft das Erwachen bereits an die Tür.